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Janka Bryl

Um Mitternacht

In den ganzen zwanzig Jahren nach dem Krieg habe ich das Gehöft zu jeder Jahreszeit gesehen, im Frühling, im Sommer und auch im Herbst.

Im Frühling, wenn das Gras mit seinem ersten Grün sanft die langen, ungepflügten Hügel überzieht, von melancholischen Feldsteinen und Wacholderbüschen wie von Farbtupfen unterbrochen; wenn in der Niederung vor der alten Hütte die Kirschbäume aufblühen und das kleine Stückchen Garten frisch umgegraben ist, bereit für neue Gemüsebeete und ein paar Kartoffeln.

Im Sommer, wenn sich neben der Straße, auf der ich gewöhnlich entlangfahre, der quellklare Bach plätschernd dahinschlängelt, gegen dessen Strömung sich der hiesige Gründling tapfer hält; wenn vor einem Fußgänger oder einem Wagen eine Zieselmaus, satt wie ein Gebildeter und leichtsinnig wie ein kleiner Junge, Staub aufwirbelnd über die Straße huscht; wenn ich beim vertrauten Anblick dieser kahlen und sonnverbrannten Hügel, die so gar nicht in unsere fruchtbare Gegend passen wollen, jedes Mal unwillkürlich an die palästinensischen Landschaftsbilder Polenows denken muss - ohne Christus, ohne Personenstaffage, nur mit der schrecklichen, glühendheißen Schwermut der Natur.

Im Herbst, wenn in den Leiterwagen, die zum Jahrmarkt rattern, die fetten Ferkel zufrieden und satt vor sich hin grunzen, als sei ihr Schicksal nicht schon längst besiegelt, und wenn die Kämme der jungen Hähnchen in den Körben wie zierliche Blumen rot aufleuchten; wenn es überall auf unserer lieben Welt nach Antonsäpfeln duftet und die junge, schlanke Eberesche am Wege sich glücklich wie ein Mädchen mit den ersten roten Dolden behängt.

Im Winter aber, im weißen, scharfen Frost, erinnere ich mich an dieses Gehöft nur so, wie ich es während des Krieges erlebt habe. Es ist, als hätte ich es zu dieser Jahreszeit später nie wieder gesehen, weder vom Schlitten oder vom Auto aus noch wenn ich zu Fuß den knirschenden Weg entlanggegangen bin.

Nicht an die Kriegstage hier erinnere ich mich, sondern an die Nächte, genauer gesagt, an eine stürmische Winternacht.

Jetzt hält sich hartnäckig nur noch diese alte Kate in der Niederung zwischen den Hügeln, die heutzutage wie früher besser wieder mit Föhren bewachsen sein sollten. Die übrigen Bauern sind allmählich in ihr Heimatstädtchen zurückgekehrt, aus dessen engen Straßen und Gassen sie einst die Landvermesser des bürgerlichen Polens hinausgelockt hatten.

Im Krieg trieben in dem Städtchen ein deutscher Sonderführer und ein belarussischer Bürgermeister, fremde Gendarmen und einheimische Polizisten ihr Wesen. Der Ort war ein faschistischer Stützpunkt und hatte eine kleine Garnison. Gegen Ende der Besatzungszeit verteilten die Hitlerleute, wie sie es in solchen Garnisonen meist taten, an die übriggebliebenen Männer Waffen, ohne zu fragen, ob sie es wollten oder nicht, und gaben ihnen den Namen Selbstschutz. Aus ausgesuchten Polizeihenkern wurde eine Strafabteilung gebildet. Auf den Türmen, die über die Drahtverhaue und Bunker der Garnison hinausragten, hielten Posten mit Maschinengewehren Wache. Die nahe gelegenen Gehöfte waren also immer im Blickfeld, ja beinahe im Feuerbereich der Machthaber.

Auf verschiedene Art hatten wir Partisanen diese Gehöfte gern.

Auf einem von ihnen hatte jemand drei Kameraden verraten, die dort den Tag über bei einem Bekannten geblieben waren. Sie wehrten sich und feuerten zurück, bis sie schließlich zusammen mit der Tenne verbrannten. Der Besitzer des Gehöftes und seine Familie wurden aus irgendeinem Grunde nicht erschossen, sondern nur nach Deutschland verschleppt, von wo sie indes nicht mehr zurückkehrten.

Auf einem anderen Gehöft hatte eine stille, abgehärmte Frau einem Kameraden und mir einmal mitten in der Nacht bescheiden, doch freundlich zu essen gegeben. Als Mutter - im Hause lebten noch der Ehemann, eine erwachsene Tochter und ein halbwüchsiger Sohn - bangte sie natürlich um ihre Kinder, gleichzeitig aber hatte sie mit uns Mitleid, das gewöhnlichste und heiligste Mitleid, wie wir es oft bei unseren Menschen angetroffen haben.

Auf dem dritten Gehöft, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Garnison befand, hatten wir einen Verbindungsmann. Er hieß Onkel Shuraviel und fiel nach außen hin nicht weiter auf. Es passte gut, dass er als einigermaßen vermögender Bauer galt und nicht als Kleinbürger, denn auch in diesem Städtchen war es irgendeiner dummen Kleinstadttradition zufolge üblich, die Dorfbewohner für Trottel zu halten. Auge und Ohr des Onkels hatten uns etwa ein halbes Jahr lang gedient, als er eines Tages plötzlich nicht mehr zu dem verabredeten Treffpunkt kam; auch beim nächsten und übernächsten Mal blieb er aus. So ritten wir denn los, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Wir wählten dafür eine Nacht, in der man, wie man so sagt, keinen Hund hinausjagen würde. Schon am Abend hatte ein Schneegestöber eingesetzt, es heulte und pfiff nur so.

Bei den Pferden, die wir hinter der Tenne an einer windgeschützten Stelle stehengelassen hatten, blieb Jermakou zurück. Shuraviel trug seinem Sohn auf, "dem armen Vieh" etwas Heu vorzuwerfen, da ihn Kola Schtscherba im Vorraum in ein Gespräch verwickelt hatte.

Ich ging ins Haus.

Unterwegs hatte ich mich endgültig überzeugen müssen, dass ich wirklich stark erkältet war. Der Kopf schmerzte und dröhnte, bald wurde mir heiß, bald kalt. Ich Dummkopf hätte heute nicht reiten dürfen, sondern etwas trinken und unter dem Ledermantel tüchtig schwitzen müssen.

Die Fenster waren gegen die Kälte von außen mit Strohmatten verhängt. In der Hütte war es stickig. Die Hausfrau war krank, wie wir aus früheren Klagen Shuraviels wussten. Sie lag auf dem Ofen und stöhnte, vielleicht aus Schwäche, vielleicht aber auch vor Unruhe. Eine trübe Lampe stand auf einem Tischchen neben einem breiten, vernickelten Bett und flackerte, als wäre auch sie erschrocken. Auf dem Bett lag, ganz an die Wand gerückt, eine schwarzhaarige junge Frau, die bis zum Mund mit einer roten Steppdecke zugedeckt war. Unerwartet aufgescheucht, hatte sich vorhin gerade der Sohn des Hausherrn aus diesem Doppelbett erhoben.

Zwei Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich das Bett erblickte. Der eine - jung und eifersüchtig - galt denen, die sich hier in der Dunkelheit verborgen hielten und im Warmen miteinander flüsterten, während draußen in der Welt Kälte und Krieg herrschten; der andere Gedanke, eher unangenehm, galt diesem vernickelten Doppelbett, das, so vornehm in dieser armen Enge, offenbar zur Aussteuer gehörte. Wahrscheinlich hatte es der Vater der Schwiegertochter - wir wussten schon, dass sie aus dem Städtchen stammte - nach der Liquidierung des Ghettos angeschafft.

Ich stand mitten in der Hütte, konnte die junge Frau aus ziemlicher Nähe betrachten und erfreute mich sogar trotz meiner Benommenheit durch die Grippe ein wenig an ihrem Anblick. Ich schaute und malte mir etwas aus, und schon hasste ich ihre völlig unnötige, wenn auch begreifliche Angst.

Sie war nicht nur bis an den Mund zugedeckt, sondern hielt die Decke beiderseits ihrer weichen Puppenwangen auch noch mit beiden Händen fest. Die Arme - entblößt, wie aus Marmor gemeißelt, warm, dachte ich - waren ebenfalls zugedeckt, nur ihre zweimal vier kleinen Finger waren zu sehen, die sich mit abstoßender, kindischer Verzweiflung an die einzige Rettung klammerten: die Decke von der Aussteuer.

"Warum sind Sie denn so blass?"

Sie fasste merklich Mut, schluckte ein paar Mal und fragte leise, fast weinend: "Und wohin haben Sie meinen Mann geführt?"

Hierher, in nächste Nachbarschaft zur Garnison, kam unsereiner nur selten. Es war anzunehmen, dass ich der erste Partisan war, den dieses Mädchen sah. Wir hatten heute erfahren, dass sie vor drei Wochen auf das Gehöft gekommen war. Dort, wo sie früher gelebt hatte, waren die Hitlerleute für viele Kleinbürger, die wie das ganze westliche Belarus vom zwanzigsten Jahrhundert an einen häufigen Machtwechsel gewöhnt waren, nur einfach Deutsche, wieder einmal neue Herren, schrecklich nur für "Ostarbeiter", für "Juden" und für diejenigen, die nicht gehorchten. Solche aber gab es jetzt, nach der Abrechnung mit den Kommunisten und Sowjetfunktionären, soweit diese gefasst werden konnten, und nach der Massenvernichtung der Juden nur noch in abgelegenen Dörfern, oder sie waren in die Wälder geflüchtet. Für diese offenbar lustige und sorglose Plaudertasche waren die Polizisten keine Vaterlandsverräter und keine niederträchtigen Helfershelfer des Feindes, keine Mörder und Brandstifter, sondern zuallererst junge Burschen und Kavaliere, von denen sie im Klub umschwärmt wurde.

Und plötzlich musste hier, einen Kilometer von jenem Klub entfernt, ein Partisan auftauchen!

Übrigens bezeichnete man uns dort, wo sie herangewachsen war, nicht als Partisanen. Für sie war ich keiner von denen, die man im Moskauer Rundfunk, dessen Sendungen wir hörten, und in den Zeitungen, die uns von Flugzeugen aus dem unbesetzten Land gebracht wurden, schon überall Volksrächer nannte. Sie hielt mich auch nicht für einen Soldaten der millionenstarken, nicht nur sowjetischen, sondern internationalen Armee von Kämpfern gegen das größte Übel der Menschheit, den Faschismus. Ich war für sie nicht bloß ein einfacher Grobian vom Lande, sondern obendrein noch ein Bandit, einer von jenen "Stalin-Banditen", über die sie eine unwahrscheinliche Menge von Schreckensgeschichten und Abscheulichkeiten gehört und vielleicht gelesen hatte.

Da stand ich nun, ein Bandit, vor ihrem Bett, offenbar schon bereit, wie es ihr schien... es wäre ja noch gut, wenn ich sie nur vergewaltigte, aber vielleicht würde ich sie anschließend auch noch umbringen. Ihr Mann war ja auch schon weggeführt worden. Und wohin?

"Haben Sie keine Angst, er kommt gleich zurück. Hören Sie, da kommt er schon".

Ich fühlte mich beinahe selbst erleichtert, als er endlich vom Hof hereinkam, verängstigt und nicht ganz sicher, ob er wieder unter die Decke schlüpfen dürfte.

"Sie möchten zu Ihren Leuten hinauskommen, Genosse!"

Ich verabschiedete mich und verließ das Haus eher gekränkt als wütend. Empört und schmerzhaft empfand ich vor allem die Kränkung. Vielleicht war ich auch nur wegen meiner Erkältung so sauer? Aber nein, das war es nicht! Ich war doch auch jung, nicht viel älter als dieser Ehemann, dem die Angst im Gesicht geschrieben stand. Ich hatte mich nicht wie er unter die warmen Fittiche der Garnison verkrochen; ich besaß etwas, worauf ich stolz sein konnte, und es kam mich bitter an, dass man uns, dass man mich so ... doch zum Teufel mit ihnen! "Schiefe Augen schielen".

Das Gefühl der Kränkung und meine Wut machten sich erst dann in Verwünschungen Luft, als wir in dem düsteren Schneetreiben davon ritten und Schtscherba erzählte, dass unser Shuraviel darum gebeten hätte, ihn um des lieben Herrgottes willen nicht mehr als Verbindungsmann zu betrachten. Er fürchte sich vor der Schwiegertochter, hatte er gesagt. "Im Hause ist doch nun ein fremder Mensch, Jungs!" Vielleicht hielt er es wirklich nicht mehr aus, vielleicht aber machte er auch nur Ausflüchte, wollte neutral bleiben, sauber, wie man so sagte, sowohl vor den Deutschen als auch vor den Sowjets.

Wer schon einmal nachts in einem Schneesturm geritten ist, wo man weder Pferd noch Weg erkennt, der weiß, wie das ist. Man wird über dem Erdboden dahingetragen, und aus allen Richtungen blasen und pfeifen die Winde, schutzlos ist man ihnen ausgeliefert. Sie verfügen über einen unerschöpflichen Vorrat beißender Heiterkeit, noch einmal und noch einmal, immerzu peitschen sie einem ins Gesicht, auch die Beine scheinen in den Gelenken zu knirschen. Und wenn das noch nicht genug ist, einem die Erkältung noch nicht reicht, dann kommt noch die schlechte Laune hinzu.

Von der Landstraße, die von dem Gehöft wegführte, mussten wir wieder auf eine große Chaussee hinausgelangen, allerdings erst weit hinter dem Städtchen; auf ihr ging es dann über das Dorf Mokraje nach Hause, in den Wald zurück. Eigentlich gab es keine Straßen mehr, nur das verschneite, bös zerzauste, aufgewühlte freie Feld, wo die Teufel sich mit Sackleinwand schlugen. Schtscherbas Pferd aber fand trotzdem den Weg. Kolja ritt voran, ich folgte, und Jermakou machte den Schluss. Dichter als gewöhnlich ritten wir hinteremanderher und schwiegen wie immer unterwegs. Heute war es sogar zum Denken zu kalt.

Mir ging etwas durch den Kopf. Es war kein Gedanke, ja nicht einmal ein Wunsch, sondern eher eine Fata Morgana, eine Vision von Wärme und Gemütlichkeit - nur etwas Heißes in den Magen, und dann mit dem Kopf unter den Ledermantel. Darauf hoffte ich, dann wieder hatte ich alle Hoffnung verloren, und schließlich wollte ich sie doch nicht ganz aufgeben. Dabei trug es mich weiter voran, ich musste mich auf mein Pferd und auf die beiden Kameraden verlassen, und so ritt und schwamm ich vorwärts in Kälte und Sturmgebraus.

Da stieß mein Pferd an das vorangehende, ich zerrte es an den Zügeln nach links, und als ich mit Schtscherba auf gleicher Höhe war, näherte ich mich seinem Gesicht und blickte ihn fragend an.

"Nun, wie geht es dir?", rief mir Kolja zu. Es hörte sich an, als spräche er unter einem Kissen hervor.

"Mist", entgegnete ich mit telegrafischer Knappheit und schloss vor dem Wind sofort wieder den Mund.

"Ha-la-ma-la-ba-la!" rief er wieder.

"Was? Kann nichts verstehen!"

"Ein Gehöft, sage ich. Dort rechts!"

Ich begriff. Bis Mokraje war es zu weit, wir mussten hier einkehren.

Freilich hatte uns auch Shuraviel einen Imbiss in Aussicht gestellt, doch dort wollten wir nicht, wir waren dazu nicht in der richtigen Stimmung; und es wäre auch allerhand gewesen, wenn wir es uns in allernächster Nähe der Polizei zum Essen bequem gemacht hätten. Aber er hatte uns ja auch nicht gebeten! Eben nur in Aussicht gestellt.

So waren wir denn zu diesem einsam dastehenden Gehöft in der Niederung gelangt.

Jetzt steht es so für sich allein da. Damals aber, als wir es plötzlich vor uns sahen, war es das einzige Gehöft auf der ganzen Welt. Es war wie eine Insel, zu der wir geschwommen kamen, um endlich das glatte, steile Ufer hinaufzuklettern, um endlich Land unter den Füßen zu spüren, aufzuatmen, uns umzusehen und zu überlegen, was nun weiter geschehen sollte.

So dachte ich. Die Jungs wollten sich einfach aufwärmen und etwas essen. Auch mit mir hatten sie natürlich Mitleid.

Doch so schlapp war ich nicht. Ich stieg vom Pferd, trat als erster an das dunkle Fenster heran und klopfte an die Scheibe.

Kein Laut, kein Rascheln.

Vielleicht hörte ich nur nichts?

Ich klopfte noch einmal. Da kam mir Schtscherba zu Hilfe; unter seinen Faustschlägen wackelte der Fensterrahmen.

"Da kommt jemand!", rief er, sich zu mir umwendend. Er hatte zu laut gerufen, denn hier, an der windgeschützten Seite des Hauses, war es ruhiger.

Die Zeit war damals nicht dazu angetan, lange darüber nachzudenken, ob es höflich oder unhöflich sei, mitten in der Nacht einfach an fremde Fenster zu klopfen. Wir waren sogar böse und hatten ein Recht darauf, es zu sein. Vielleicht gönnte sich auch hier irgend so ein frohgemuter, ahnungsloser Bursche oder ein neutraler, sauberer Schwiegervater seine Bettruhe. Und jetzt wird er in seiner Ruhe gestört, nein, so etwas! Noch tut er so, als habe er nichts gehört, diese Schlafmütze.

Ich stand dicht an der Tür, schon hörte ich eine Hand die Bretter entlangtasten und den Riegel suchen. Ich richtete - nein, nicht die Maschinenpistole, sondern eine Taschenlampe, die noch nicht eingeschaltet war, auf die Tür.

Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben, die Klinke knarrte, und die Tür ging auf.

Ich knipste die Taschenlampe an.

Gerade stellte ich mir, weil es meiner Stimmung am besten entsprach, das verschlafene und erschrockene Gesicht des Hofbesitzers vor, der nun auch seinen Tribut, seinen großen Beitrag in dem allgemeinen Ringen leisten sollte und uns für eine halbe Stunde häusliche Wärme bewilligen, etwas zu essen herausrücken und einem von uns auch gestatten sollte, sich ein wenig zu erholen. "Entschuldigen Sie, dass wir uns hier so an Ihrem Anblick weiden!"

Doch auf der Schwelle stand im Lichte der Taschenlampe ein Mädchen von etwa zehn Jahren, weiß, mit einem Nachthemd angetan. Gegen das blendende Licht legte sie die linke Hand mit dem Handgelenk schützend an die Stirn und blinzelte uns darunter an.

"Wer ist noch in der Hütte?"

"Ich und Tolik. Mama ist zu Tante Hanna gegangen, sie ist krank".

"Warum hast du nicht gleich aufgemacht? Wo ist der Vater?"

Das Mädchen nahm die linke Hand von der Stirn und blickte uns offen an, mit der rechten bekreuzigte sie sich weit ausholend und mit einem für dieses Alter seltsamen und großen Lebensernst - nicht so, als wäre es von der Großmutter abgeguckt, sondern mit der Selbständigkeit eines Erwachsenen. "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Ich habe euch wirklich nicht gehört, Onkel. Und einen Vater haben wir schon lange nicht mehr. Schon seit dem polnischen Krieg".

Das war so schrecklich, nein, so ungewöhnlich und unerwartet, es hat mich so aufgewühlt, dass ich beinahe losgeheult hätte.

"Mach wieder zu, Kind! Los! Lauf zurück auf den Ofen, zu Tolik!"

Die Taschenlampe erlosch.

Die Tür wurde wieder geschlossen. Abermals knarrte beim Zuschieben der Riegel.

Wortlos saßen wir auf und ritten fort.

Oft in den letzten zwanzig Jahren hätte ich von der Straße zu dem Gehöft abbiegen können, um zu sehen, was aus jener kleinen Frau geworden war. Ob sie jetzt wohl eine gute Hausfrau war und hier Wurzeln geschlagen hatte, so dass sie unter keinen Umständen wegziehen will, weder ins Städtchen noch nach Mokraje? Vielleicht aber war sie auch Lehrerin oder Ärztin geworden und hatte schon längst in eine andere Gegend geheiratet, weit weg von hier, nach moderner Art, nicht in das drittnächste Dorf, sondern über dreitausend Kilometer hinweg.

Sicher hätte ich einmal einkehren können und nachschauen, und vielleicht hätten wir uns auch gemeinsam erinnert.

Aber ich bin nicht hingegangen.

Ich gehe auch nicht hin.

Ich mag nicht.

Ich möchte, dass sie in meinem Gedächtnis weiter so lebt, wie sie damals in der Tür stand, in dem weißen, eiskalten Schneetreiben, im grellen Schein der Taschenlampe, und mit ihrem kurzen, leinenen Hemdchen.

Nur darf sie keine Angst vor uns haben, die wir für sie und für alle wie sie im Schneesturm auf unseren Schlaf verzichten.

Das hatte ich ihr damals nicht mehr sagen können; das Kind fror zu sehr.

 

1966



Пераклад: Гундула Чапега, Уладзімір Чапега
Крыніца: Belarussische Erzählungen. Minsk, Bellitfond Verlag, 2000.